Stolz verwiesen die Autobauer in der Vergangenheit auf die Fortschritte bei den Fahrzeugemissionen. Doch schon seit Jahren war es ein offenes Geheimnis, dass dies nur für die Messergebnisse im Labor gilt. Mit der Realität haben sie wenig zu tun. Die damit verbundenen „erheblichen nachteiligen Auswirkungen auf die Verwirklichung der Luftqualitätsziele, insbesondere in städtischen Gebieten, waren der Kommission, den zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten und vielen anderen Beteiligten spätestens seit 2004–2005, als die Euro-5/6-Verordnung vorbereitet wurde, bekannt“, heißt es im Abschlussbericht des Dieselgate-Untersuchungsausschusses des Europäischen Parlaments.
Das konkrete Problem der überhöhten Stickoxid-Emissionen kam im Zusammenhang mit SUV und Lkw sogar schon früher zur Sprache: „Aus Sicht der Bundesregierung ist im Rahmen des Genehmigungsverfahrens die Einhaltung der Stickoxid-Grenzwerte sichergestellt“, heißt es in einem Bundestags-Dokument vom Mai 2003 – wohlgemerkt: Die Grünen waren damals noch Teil der Regierung. Politiker aller Parteien mussten sich also der Probleme bewusst sein.
In der Branche herrschte ein regelrechter Wettbewerb, wer die besten Tricks zur Senkung der Messergebnisse auf Lager hat. Da wurden während der Prüfung alle Stromfresser abgeklemmt, Lüftungsschlitze abgeklebt, besondere Leichtlaufreifen aufgezogen und mit erhöhtem Luftdruck versehen, Sensoren auf die Erkennung einer Prüfstandssituation getrimmt oder gleich die Motorsteuerung mit einer Zeitschaltung versehen, die nach der genormten Testdauer die Abgasreinigung zurückfährt.
Alle so präparierten Fahrzeuge erhielten trotzdem eine Typgenehmigung, also den Nachweis Sicherheits- und Umweltstandards zu erfüllen. Dies schiebt der frühere Chef des häufig von Herstellern mit dieser Aufgabe betrauten TÜV Nord, Guido Rettig, auf die Prüfregeln. Die sähen nur die Untersuchung der Hardware von Autos vor. Wie bei vielen anderen Produkten sei beim Auto aber Hard- und Software nicht mehr zu trennen, erklärte er Ende Januar 2017 im Bundestags-Untersuchungsausschuss auf die Frage, warum die Manipulationen nicht schon hier aufgefallen seien. Ohnehin ist die Erteilung solcher Genehmigungen Akkordarbeit. Laut dem zuständigen Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) müssen rund 60 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter pro Jahr fast 20.000 Anträge bearbeiten. Angesichts dieser großen Menge ist Detailarbeit nicht ernsthaft zu erwarten.
Das Abgasranking der Untersuchungskommission
Das Ergebnis der bisherigen Vorgehensweise ist im Prüfbericht der „Untersuchungskommission Volkswagen“ nachzulesen. Die Abgasmesswerte werfen insgesamt ein schlechtes Bild auf die Autoindustrie. Sie haben somit entscheidend zum Dieselverdruss beigetragen (nicht etwa die Lokalpolitiker, die durch Gerichtsurteile gezwungen sind, laut über Fahrverbote nachzudenken!). Die Fahrzeuge wurden in zwei Gruppen eingeteilt, weil es aus Sicht der Tester Kandidaten mit „auffälligem“ und „unauffälligem“ Verhalten gab. „Der Gruppe I wurden alle Fahrzeuge zugeordnet, […] bei denen die Hersteller […] NOx-Werte technisch plausibel und akzeptabel darstellen konnten. Fahrzeuge mit auffällig hohen NOx-Werten, die technisch nicht ausreichend erklärbar schienen, wurden in Gruppe II eingegliedert“, heißt es in dem Bericht.
Der größte Sünder gemessen an der prozentualen Grenzwertüberschreitung ist der Renault Kadjar 1.5, der größte nach absolutem Stickoxidausstoß der Range Rover 3.0. Renault gelobte nach dem Test Besserung, Land Rover dagegen verwies auf die niedrigen Außentemperaturen beim Test, die den gesetzlich erlaubten „Bauteilschutz“ aktiviert hätten. Selbst in der „sauberen“ Gruppe 1 gibt es in der Spitze eine Grenzwertüberschreitung um das 6,4-fache des Grenzwertes beim Land Rover Evoque. Laut Auswertung ist dies „mit einer eingeleiteten Regenerierung des Partikelfilters“ zu erklären. Solche oder ähnliche Begründungen für Ausreißer in der Tabelle finden sich häufig in dem Bericht. Sie führten aber offenbar nicht dazu, den Test nochmal zu wiederholen, um aus Herstellersicht freundlichere und aus Kundensicht realistischere Angaben zu erhalten. So muss man mit den Werten arbeiten, die auf dem Papier stehen.
Acht Prüfzyklen
Ein Wort zu den unterschiedlichen Fahrsituationen. Insgesamt musste jedes Fahrzeug acht Prüfzyklen durchlaufen:
- NEFZ kalt – er entspricht exakt dem Geschwindigkeits-Zeit-Profil des Zyklusses im europäischen Typgenehmigungsverfahren.
- NEFZ warm – direkt im Anschluss an NEFZ kalt. Hier sollte u.a. auch geklärt werden, ob nach dem knapp 20 Minuten dauernden ersten Prüfzyklus eine Reduzierung der Emissionsminderungsmaßnahmen erfolgt.
- NEFZ bei 10 Grad Celsius Umgebungstemperatur – Dieser Prüfzyklus sollte aufzeigen, ob eine Abgasregulierung in Abhängigkeit von der Umgebungstemperatur angewendet wird.
- Straßenmessung nach NEFZ – Dieser Prüfzyklus sollte erkennbar machen, ob eine Veränderung der Emissionsminderungsmaßnahmen am Fahrzeug auf der Straße durchgeführt wird.
- NEFZ Back – erneute Straßenmessung nach NEFZ, aber zuerst mit Teil 2 gefahren und danach mit Teil 1.
- NEFZ plus 10 Prozent – Straßenmessung mit Fahrdauer nach NEFZ mit um 10 Prozent erhöhten Geschwindigkeiten.
- NEFZ minus 10 Prozent – Straßenmessung mit Fahrdauer nach NEFZ mit um 10 Prozent verminderten Geschwindigkeiten.
- RDE-Fahrt – realitätsnahe Straßenmessung nach zukünftiger „Real Drive Emission“-Vorschrift
Festzuhalten bleibt, dass alle getesteten Fahrzeuge den ersten Prüfzyklus bestanden haben. Dies verleitet die Hersteller zur Aussage, ihre Fahrzeuge entsprächen den gesetzlichen Vorgaben. Doch den faden Beigeschmack dieses Fazits wird kein Manager verleugnen können. Artikel 5 der EU-Richtlinie 715/2007 verlangt schließlich, „dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht“. Dass dies möglich ist, zeigten immerhin zwei der 49 in den beiden Tabellen gelisteten Fahrzeuge. Sie schafften es, in allen getesteten Fahrsituationen die Grenzwerte einzuhalten und stammen ausgerechnet aus dem VW-Konzern.
Ende der Narrenfreiheit?
Auch der Verkehrsminister war offensichtlich nicht mit diesen Resultaten zufrieden. Er will die Nachprüfungen der Abgasemissionen nach Erteilung der Typgenehmigungen nicht mehr allein einem Technischen Dienst überlassen. Das KBA soll selbst stichprobenartig tätig werden und „dazu regelmäßig Fahrzeuge aus dem Markt entnehmen und auf Vorschriftsmäßigkeit kontrollieren. Das KBA wird dabei auch stichprobenartig Nachkontrollen bei Fahrzeugen durchführen, für die andere Behörden die Typgenehmigung erteilt haben“, kündigte Dobrindt im Abschlussbericht an.
Für die so genannten „Dopingtests“ soll die Behörde eigene stationäre und mobile Messanlagen erhalten, um nicht mehr ausschließlich auf technische Dienstleister oder gar die Prüfstände der Fahrzeughersteller angewiesen zu sein. Zudem soll das KBA eine Offenlegung der Motorsteuerungssoftware „sowie der verwendeten Emissionsstrategien zur Bedingung für die Erteilung der Typgenehmigung machen“, so der Bericht. Man darf anzweifeln, dass diese Maßnahmen tatsächlich Früchte tragen. Angesichts der oben beschriebenen Menge an jährlich eingehenden Typgenehmigungsanträgen wird es nämlich nötig sein, das KBA nicht nur mit spezieller Hardware, sondern auch mit der nötigen Manpower auszustatten. Ein solches Bekenntnis fehlt in dem Abschlussbericht allerdings.
Alle bisherigen Beiträge zu Dieselgate finden Sie im Bereich Spezialthemen.
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